Ausgangslage im Investitionsgüterservice

Die Investitionsgüterindustrie ist einer der größten Wirtschaftszweige in Deutschland. Der Maschinen- und Anlagenbau als „Mittelpunkt der Investitionsgüterindustrie“ (BMWi 2018) erzielte in 2017 mit 1.019.000 Mitarbeitenden einen Nominalumsatz von 226 Mrd. € und ist somit nach Mitarbeiterzahlen der größte deutsche Arbeitgeber, insbesondere für hochqualifizierte Arbeitskräfte. Ca. 87% der rund 6.500 Unternehmen haben weniger als 250 Mitarbeitende. Die Branche ist somit sehr stark mittelständisch geprägt.

Lange galt es in der Investitionsgüterindustrie als Erfolgsrezept, regelmäßig innovative Produkte auf den Markt zu bringen. Um nachhaltig wettbewerbsfähig zu bleiben, rücken seit einigen Jahren jedoch vermehrt produktbegleitende Dienstleistungen in den Fokus, welche für die anbietenden Unternehmen von erheblicher Ergebnis-, Umsatz-, Kundenbindungs- und somit Zukunftsrelevanz sind. Discher und Bosch (2017) prognostizieren für den Service im Maschinen- und Anlagenbau eine Steigerung des Umsatzanteils von 20 % in 2017 auf 30 bis 40% in 2022. Das Ziel hybrider, aus Primärprodukten und begleitenden Dienstleistungen bestehender Geschäftsmodelle ist es, dem Nutzer eine Komplettlösung für seine Bedürfnisse anzubieten, die über das Angebot physischer Produkte hinausgeht, um sich hierüber vom Wettbewerb differenzieren zu können.

Gleichzeitig eröffnen die fortschreitende Wissensintensivierung, Digitalisierung und Vernetzung den Unternehmen der Investitionsgüterindustrie die Chance, Lösungen anzubieten, die zuvor nicht realisierbar waren. So können beispielsweise Monitoring- und Analysetools sowie Lösungen für einen Customer-Self-Service angeboten werden. Die angebotenen produktbegleitenden Dienstleistungen haben zum Ziel, Anlagenstillstände zu minimieren, Verfügbarkeiten zu erhöhen und auf diese Weise einen weitgehend störungsfreien Betrieb auf hohem Niveau zu ermöglichen. Dem technischen Service kommt dabei eine zunehmend erfolgskritische Rolle zu.

Durch die zunehmende Internationalisierung und den hohen Exportanteil deutscher Investitionsgüterhersteller – für den Maschinen- und Anlagenbau betrug die Exportquote in 2017 gemäß VDMA-Angaben 78,6% – kommt der technische Service oftmals weltweit zum Einsatz. Die Entsendung von Servicetechnikern ist dabei in der Regel zeitintensiv, kostenaufwändig und verursacht häufig längere Anlagenstillstände. Vor diesem Hintergrund sind viele Anbieter sehr an Lösungen interessiert, die Digitalisierung für die Optimierung der Service-Arbeit zu nutzen. In diesem Zusammenhang dürfte der Selbsthilfe zukünftig noch größere Bedeutung zukommen, die es dem Nutzer ermöglichen soll, zumindest weniger komplexe Arbeitsumfänge möglichst schnell selbst beheben zu können. Idealerweise werden sie dabei erforderlichenfalls vom technischen Service per Remote-Service angeleitet. Service-Mitarbeiter des Anbieters müssen dann nicht mehr zwingend vor Ort sein. Die zentrale Herausforderung wird in diesem Zusammenhang darin bestehen, das umfassende Produkt-, Prozess- und Problemlösungswissen der Service-Mitarbeiter vor Ort verfügbar zu machen.

Aufgrund der Digitalisierung, der hohen Variantenvielfalt sowie der steigenden Komplexität von Investitionsgütern müssen Service-Mitarbeiter ihr Wissen über die jeweiligen Produkte, Prozesse und Lösungsstrategien stetig erweitern und aktualisieren. Jedoch ist es in den meisten Fällen unmöglich, das gesamte Wissen als „Kopfwissen“ abrufbar zu haben. Besteht zusätzlich ein fehlerhafter oder unvollständiger Informationsaustausch mit anderen Unternehmensbereichen, ist es für die Service-Mitarbeiter nicht machbar, sich sämtliches für die unterschiedlichen Service-Einsätze erforderliche Wissen anzueignen. In jedem vierten bis zehnten Servicefall ist ein Mehrfachbesuch aufgrund mangelhafter Informationen bzw. falscher Analysen erforderlich (Walter 2009). Folglich sollte für die Service-Arbeit von jedem Ort der Welt ein schneller Zugriff auf das gesamte verfügbare Service-Wissen möglich sein, um eine effiziente Abwicklung des Service-Einsatzes sicherstellen zu können.

Aufgrund der Personalintensität des zunehmend internationalen Dienstleistungsgeschäfts und bereits heute vorhandener Engpässe an qualifiziertem Servicepersonal sind die Konzeption und Umsetzung zukunftsfähiger, dienstleistungsbasierter Geschäftsmodelle und damit verbundene neue Formen der Arbeitsgestaltung für die mittelständischen Unternehmen zentrale Aufgaben. Hierbei gilt es, auch bisher unterrepräsentierte Personenkreise (Frauen, ältere Menschen, Menschen mit Behinderungen) für die kundenorientierte Arbeit im technischen Service zu erschließen und flexiblere Arbeitszeitmodelle zu ermöglichen, die gegenwärtig mit dem durch häufige Reisetätigkeit geprägten Berufsbild kaum vereinbar sind. Der zentrale Schlüssel liegt dabei in der strukturierten Digitalisierung von Service-relevantem Wissen, wodurch eine räumliche und teilweise auch zeitliche Entkoppelung von Leistungsnachfrage und -erbringung möglich wird.

Mittelständische Investitionsgüterhersteller stehen hierbei jedoch vor besonderen Herausforderungen:

  • Service-relevantes Wissen wird in den existierenden Arbeitsprozessen nicht systematisch generiert, aufbereitet, aktualisiert und (dezentral) zur Verfügung gestellt, worunter Effizienz und Qualität der Dienstleistungserbringung leiden.
  • Service-relevantes Wissen befindet sich vor allem in den Köpfen des Personals, wird nur selten expliziert und ist nur zu einem geringen Grad digital verfügbar und distribuierbar.
  • Trotz der Verfügbarkeit von Augmented-Reality- und Virtual-Reality-Technologien (AR und VR) sowie digitalen Plattformen werden Tätigkeiten im Service häufig immer noch manuell und analog durchgeführt. Hierbei stehen oftmals weder dem Anwender vor Ort noch dem Remote-Experten alle wesentlichen Informationen zur Verfügung. Bestehende Lösungen decken im Praxiseinsatz nicht alle für die Abbildung von Ende-zu-Ende-Prozessen notwendigen Funktionen ab.
  • Marktpotenziale im Produkt- und Servicegeschäft bleiben ungenutzt, weil die Erbringung von Serviceleistungen speziell im Ausland nicht in der vom Kunden geforderten Verfügbarkeit und Qualität vor Ort gewährleistet werden kann.

Die digitale Erfassung, Veredelung, Bereitstellung und Vermarktung von Service-relevantem Wissen stellt einen wesentlichen Ansatz im Umgang mit diesen Herausforderungen dar. Sie erfordert von den Investitionsgüterherstellern jedoch Veränderungen auf verschiedenen Ebenen: Auf der Geschäftsmodellebene müssen sie dabei unterstützt werden, ihr vorhandenes Service-Wissen als wertvolle Ressource zu begreifen, es systematisch zu managen und mit Hilfe von innovativen Leistungsangeboten und Ertragsmodellen zu vermarkten. Auf der Prozessebene sind Arbeitsabläufe so zu gestalten, dass Service-Wissen kundenbedarfsgerecht aufgebaut, vorgehalten und bereitgestellt wird. Die Effizienz von Support- und Service-Personal durch kürzere Lösungszeiten sowie die Arbeitszufriedenheit sollen hierdurch gesteigert werden. Auf der Infrastrukturebene sind AR- bzw. VR-Lösungen sowie digitale Plattformen sinnvoll einzubinden und miteinander zu integrieren. Diese müssen für Anbieter und Kunden attraktiv sein, sich in deren jeweilige Infrastruktur mit wenig Aufwand einbetten lassen und eine weltweite Abdeckung von Service-Leistungen, ggf. ohne eigenes Personal des Anbieters beim Kunden vor Ort, ermöglichen. Das SerWiss-Projekt adressiert diese Bedarfe durch die Entwicklung eines integrierten Ansatzes zur Geschäftsmodell- und Arbeitsgestaltung für die internationale Bereitstellung und Vermarktung von Service-Wissen sowie durch die Umsetzung des Ansatzes in Pilotprojekten bei den beteiligten Anwendungspartnern. Der integrierte SerWiss-Ansatz soll somit einen Beitrag zur nachhaltigen Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der überwiegend mittelständisch geprägten deutschen Investitionsgüterindustrie leisten.

Inhaltlich verantwortlich: Prof. Dr.-Ing. Stefan Schweiger